Der Wawel-Drache

Kinder & Eltern

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DER WAWEL-DRACHE VON KRAKAU


PUKI

Juni 2016



Der Drache, von dem ich Euch erzähle, war der gefürchtetste in unserem ganzen Königreich. Seine messerscharfen Vorderzähne waren ellenlang und in der Lage, mit einem einzigen Biss einen ganzen Stier zu entzweien, während die kräftigen Backenzähne dazu dienten, täglich ganze Fleischberge zu zerkauen. Seine Eckzähne wiederum waren spitz wie die Zacken in der Krone unseres Königs, den man Krak nannte, nur viele Male größer.
Am Kopf hatte der Drache einen Kamm faustgroßer Stacheln. Sie bedeckten auch seinen zehn Meter langen Rücken und den kräftigen Schwanz, mit dem er mühelos einen Erwachsenen zu Boden stoßen konnte.
Die Schuppen seiner Panzerhaut schimmerten grünlich-violett und wenn der Drache nicht so gefährlich wäre, würde man sagen, er war schön. Doch diese Schönheit wurde von der Hässlichkeit seines Wesens überschattet, weshalb sich der König und alle seine Untertanen vor dem Drachen fürchteten.
Besonders gefürchtet waren die silbrig grauen Drachenkrallen, mit denen er einen Menschen wie ein hungriger Kater ein armes Wiesenmäuschen zerdrücken konnte. Aber am allerschlimmsten war, dass der Drache Feuer speien und so ganze Herden von Schafen oder Ziegen mit einem einzigen Feuerstoß vernichten konnte.   Der  Drache  lebte  in  einer  dunklen,  feuchten  Höhle, die  nach  Angst  und  Schrecken  roch.  Aber  denkt nicht,  dass  die  Höhle  irgendwo  weit  weg  war  und  sie  niemand  zu  Gesicht  bekam!  Nein,  der  Drache wählte  einen  Ort  mitten  in  der  Stadt!  Am  Fuße  des  Königsschlosses,  das  auf  einem  Hügel  errichtet wurde, den man Wawel heißt. Der Drache, der deshalb auch Wawel-Drache genannt wurde, verlangte vom König jeden Tag eine junge Frau. Man sagt, er habe sie gefressen, aber ganz sicher bin ich mir da nicht. Jedenfalls  musste  König  Krak  dem  Wawel-Drachen jeden Tag  eine junge  Frau  bringen  lassen, damit dieser nicht die ganze Stadt verwüstet.  Eines Tages stellte man mit Entsetzen fest, dass die einzige Jungfrau, die im ganzen Königreich übrig geblieben  ist,  niemand  Geringeres  als  die  Königstochter  Wanda  war.  Dem  König  wurde  angst  und bange, denn er wollte seine Tochter dem Drachen nicht opfern. In seiner Not wandte sich Krak an alle  tapferen Männer seines Königreiches und rief sie dazu auf, den Drachen zu vernichteten. Als Belohnung, so ließ er verkünden, gäbe es seine Tochter zur Frau.  Und  da  kamen  sie:  Ritter,  Adelsleute  und  viele  andere  tapfere  Krieger  jeden  Standes,  doch  keiner  schaffte es, den Drachen zu besiegen. Entweder sie kamen gar nicht mehr aus der Höhle des Drachen zurück oder aber mit ganz  schlimmen Wunden. Die Ritter und Adeligen versuchten den Drachen mit ihren Lanzen, Speeren und Schwertern zu besiegen, doch diese prallten an der Panzerhaut des Drachen ab – so, wie Wassertropfen an den Federn einer Ente abperlen. Ähnlich verhielt es sich mit den einfachen Waffen der Handwerksleute.  Ich war zu der Zeit bei einem Schuhmacher in der Lehre und verfolgte die schrecklichen Nachrichten mit  zunehmendem  Zorn auf  den  Drachen. Jeden  Tag  dachte  ich  darüber  nach,  wie  man  den  Drachen besiegen  könnte und  kam  schließlich  auf  die  Idee:  mit  einer  List!  Ich  besorgte  eine  große  Menge  Schwefel, Leder  und  Schafwolle  und  bastelte  daraus ein  Schaf,  in  dessen  Magen  ich  den  Schwefel hineinlegte. Das Schaf sah nicht echt aus, aber was weiß schon ein Drache, dachte ich. Mit etwas Glückwird er es nicht merken.  Mit  diesem  Schaf  ging  ich  zum  Drachen.  Als dieser mich entdeckte, fauchte  er wütend auf  und stieß eine große Ladung Feuer aus. Ich bückte mich noch gerade recht, um nicht verbrannt zu werden – meinen rechten Ärmel hat er mit seinem Feuer aber versengt. Egal, ich habe es überlebt.

„Was willst du hier?“ fragte er mit Menschenstimme. Ich wusste nicht, dass der Drache sprechen kann, deshalb war ich zuerst etwas überrascht. 

„Was willst du, Mensch?“, wiederholte er ungeduldig.  „Ich habe dir etwas mitgebracht“, antwortete ich. 

„Das ist aber keine Jungfrau. Ich will eine junge Frau!“

„Ich weiß, Drache. Aber heute probiere doch zur Abwechslung ein Schaf. Es ist nur eine Vorspeise. Die Jungfrau kriegst du obendrein, eine bildhübsche noch dazu.“

„Hhhhrrrrr“, fauchte der Drache missbilligend. Mit seinen riesengroßen Nüstern schnupperte er an dem Schaf, sodass ich Angst bekam, er würde den Betrug merken, doch bevor ich mich versah, hatte er es verschlungen. Kaum hatte er es gegessen, begann er zu hüsteln und zu röcheln, zu schmatzen und nervös zu zucken. 

„Wasser“, keuchte er. „Waaaaasser!!“ Der Schwefel hatte in seinem Magen einen solchen Durst ausgelöst, dass der Drache das Gefühl hatte, zu verdursten. Er lief aus seiner Höhle heraus und begann, aus dem Fluss zu trinken, der schleifenförmig das Schloss umgab. Er trank und trank und trank, das Wasser sank immer tiefer im Flussbett ab, währendder Drache weiter trank und trank und trank, aber seinen Durst konnte er nicht löschen, so viel Schwefel hatte  er  in  seinem  Magen! Er  wurde  dick  wie  ein  Ballon  und  schließlich  gab  es  einen  fürchterlichen Knall! Der Drache war geplatzt! Und da regnete es Wasser und tapfere Krieger! Das Flussbett füllte sich wieder und die jungen Männer, die versucht hatten, den Drachen zu erlegen, waren alle wieder da. Aus der  Höhle  aber  kamen  junge  Frauen  heraus  –  keine  einzige,  von  denen,  die  dem  Drachen  geopfert worden waren, fehlte. Und  ich?  Nachdem  ich  den  Wawel-Drachen  besiegt  und so  das  ganze Königreich  von  dessen Schreckensherrschaft  befreit  hatte,  wollte  mich  der  König  mit  Gold und  anderen  Schätzen  belohnen, doch was soll ein Schuhmacher mit solchen Dingen anfangen? Ich dankte daher dem guten König Krak und sagte, er möge lediglich dafür sorgen, dass mein Name in Ehre gehalten und nicht vergessen wird. So ließ der König einen Dichter holen und die ganze Geschichte in schöne Worte kleiden, auf dass sie auch  Euch  heute  erzählt  werden  kann  –  die  Geschichte  vom  Wawel-Drachen  und  dem  tapferen Schuhmacherjungen Skuba, der ihn mit einer List besiegt hatte. Ach ja, die Königstochter Wanda durfte ich in der Tat heiraten und da sie meine Klugheit und Tapferkeit bewunderte, störte es sie nicht, dass ich kein Prinz von Geburt an war. Sie gewann mich dennoch lieb und wir führten ein glückliches Leben.  Dem  Drachen aber widmeten wir ein Denkmal, zur Erinnerung und als Mahnung an die schreckliche Zeit. Ihr könnt es immer noch sehen, es steht am Fuße des Wawel-Schlosses in Krakau, am Eingang zur Drachenhöhle. Aber Vorsicht – hin und wieder speit der Drache immer noch Feuer!


***

Nachwort:

Volkssagen  werden  bekanntlich  von  einer  Generation auf  die  nächsten  überliefert,  früher  vor  allem mündlich, und erfahren daher immer wieder Veränderungen – es gibt nicht „die“ Version, oft findet man unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Erzählstränge in den einzelnen Überlieferungen.  Einige der bekanntesten Volkssagen aus Polen möchte ich für den deutschen Leser neu erzählen, und zwar nicht als Ergebnis einer Auseinandersetzung mit den zahlreichen einzelnen Versionen, sondern als eine eigene Interpretation, in die ich auch neue Elemente einbaue. Vor allem aber möchte ich sie aus der Perspektive des jeweiligen Helden erzählen und ihm oder ihr auf diese Weise eine Stimme verleihen.




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