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 Der Nussknacker am Saarländischen Staatstheater



Rezension zur Aufführung vom 21.12.2023 in Saarbrücken

23. Dezember 2023 | PUKI

Die wichtigsten Personen der Inszenierung

Der Theaterbesuch fängt vielversprechend an: Das sogenannte Große Haus ist bunt beleuchtet, im ersten Stock lädt ein geschmückter Christbaum zum Verweilen ein, der rote Vorhang geht auf und auf einem zweiten, transparenten wird das Setting beschrieben, zusammen mit einer Einspielung tänzelnder Schneeflocken.

Die erste Szene ist klassisch aufgebaut, mit einer prächtig geschmückten, großen Tanne mit vielen Geschenke um sie herum. Claras bzw. Maries Mutter, getanzt von Sidney Ramsey, tritt ein, elegant und anmutig auf Absätzen tanzend – es geht los. Mit dem Eintreffen der Gäste merkt man, dass das Setting etwas moderner als im Original ist, Inszenierungsfreiheit eben. Doch obgleich diese auch außerordentliche Interpretationen hervorbringen kann, gehen beim Nussknacker am Saarländischen Staatstheater durch sie Magie und Ästhetik des Meisterwerkes großenteils verloren: Anstelle von Zinnsoldaten kämpfen Roboter gegen die Mäusearmee, statt Schneeflocken tänzeln Uhrenzeiger übers Parkett und eine grazile Zuckerfee kommt nur in Ansätzen vor. Peter Tschaikowsky und E.T.A. Hoffmann im 21. Jahrhundert? Vielleicht, jedoch emotional nicht umfassend durchdacht und aus Zuschauersicht enttäuschend. Selbst die romantisch anmutende Szene, in der Clara mit dem Prinzen auf einem Kronleuchter davonschwebt, kann nur wenig wiedergutmachen – zu sehr erinnert sie an ein weltberühmtes Musical als dass sie bezaubern könnte. Schade.

Aus musikalischer Sicht kann man den Nussknacker am Saarländischen Staatstheater nur loben. Doch eine Frage bleibt offen: Warum wurde der Tanz der Zuckerfee ausgelassen? Als einer der musikalischen Höhepunkte des Balletts bietet er schließlich auch aus tänzerischer Sicht die perfekte Performancemöglichkeit, ganz zu schweigen von den Zuschauern, die die spieluhrartigen Töne der Celesta mit Vorfreude erwarten, insbesondere die zahlreichen Kinder im Saal. Dass ihnen allen die Möglichkeit verwehrt blieb, eines der zauberhaftesten Stücke Tschaikowskys mit allen Sinnen zu erleben, ist ein Fauxpas weit jenseits der künstlerischen Freiheit – Der Nussknacker ohne den Tanz der Zuckerfee ist wie Weihnachten ohne Christmette.

Hinsichtlich der Choreographie geht Stijn Celis einen modernen, im Einsatz klassischer Elemente eher sparsamen Weg – man kann das mögen oder nicht. Aber eine Besonderheit liegt nicht mehr im Bereich des individuellen Geschmacks: Tanzpassagen, die, anstatt die Musik bis in die feinsten Nuancen hin aufzugreifen und sie entsprechend in Bewegung umzusetzen, die erwartete Einheit von Bild und Ton zerstückeln und den Zuschauer in die missliche Lage bringen, die Schrittfolgen und Taktschläge über längere Zeiträume hinweg miteinander zu vergleichen, um die Unstimmigkeit zwischen Bühne und Orchestergraben zu identifizieren, anstatt ihm die Möglichkeit zu geben, ein Gesamtkunstwerk optisch und akustisch zu genießen. Bewundernswert in dieser „anspruchsvollen“ Choreographie waren diejenigen Tänzer, die trotz der gefühlten Misskonzeption die auf die Musik nicht sauber tanzbaren Parts mit ihrer hochwertigen Performance vertuschen konnten. Ganz besonders Hope Dougherty, die sich darauf verstand, ihren Körper so gekonnt kraftvoll zu bewegen, dass die Fransen ihres nachtblauen Outfits mit der kurzen Verzögerung, mit der sie der Bewegung der Ballerina folgten, doch zu einer optischen Einheit zwischen Musik und Bewegung führten. Obwohl der „arabische Tanz“ vielmehr die Züge eines afrikanischen Schamanentanzes aufwies und an den Orient so gar nicht erinnerte, hat Hope Dougherty dennoch alle seine Unstimmigkeiten mit Bravour herausgerissen. Selbst als komplett verkleidete Mäusekönigin stach die talentierte Tänzerin hervor und als alte prüde Tante in Grau zog sie die Aufmerksamkeit der Zuschauer bereits in den ersten Takten des Balletts auf sich. Ihr absolut durchschnittlich ausgefallener Applaus ließ für einen kurzen Moment die Enttäuschung in ihrer Körperhaltung sichtbar werden, war er doch überhaupt nicht gerechtfertigt angesichts dieser hervorragenden Leistung und der vielen, unterschiedlichen Rollen, die sie allesamt perfekt performte.  

Zu wenig Applaus erhielten auch einige Nebenrollen, deren Darbietung sich von den anderen abhob und deren Auftritt in der Masse nicht untergegangen ist. Da ihre Namen in dem Programmheft ohne Rollenbezeichnung – in einer schlichten alphabetischen Liste – bedeutungslos wirken, sollen sie hier explizit hervorgehoben werden. Auf der Seite der Damen wäre die als goldene Farbpalette gekleidete Anda Erdenebileg zu nennen. Wunderschöne Arm- und Handtechnik, gerader Rücken, perfekte Oberkörperhaltung. Mit ihrem Tanzpartner Federico Moiana gaben sie sowohl ein bildhübsches als auch ein gut eingespieltes Tanzpaar ab. Etwas weniger gelungen war die Nebeneinanderstellung der Farbpalette und der Zuckerstange, da die Diskrepanz zwischen beiden größer kaum sein könnte. Warum lässt man zwei Ballerinas mit derart unterschiedlich weit entwickelten Kompetenzen dieselbe Choreographie nebeneinander tanzen? Das wird schließlich keiner von beiden gerecht, dabei gibt es in dem Stück durchaus Platz und Raum für beide. 

Bei den männlichen Nebenrollen bot Hyo Shimizu eine atemberaubend explosive Tanzperformance. Vor allem bei seinen japanischen Tanzelementen wirkte er wie ein fliegender Kungfukämpfer. Auch er erhielt zu wenig Applaus.

Bevor der Star des Abends in aller Ausführlichkeit diskutiert wird, noch ein Wort zu den Kostümen. Einige Tänzer schienen sie einzuengen, wie das spanische Paar, das tänzerisch sehr gelungen war, aber in seiner Kleidung steif und eingeengt wirkte. Die Roboterkostüme in der Schlachtszene sahen nicht überzeugend aus, während die Kostüme der Zuckerstangen an sich sehr hübsch waren, aber unweigerlich zu der Frage führten, ob sie vor der Aufführung schon einmal kritisch betrachtet wurden: Zwei große, kräftige Männer mit Bart in je einen weiß-rot-gestreiften, hautengen Overall mit nur einem Ärmel zu stecken, ist entweder eine modische Skurrilität oder eine ad absurdum geführte Genderthematik. Shawn Throop und Saúl Vega Mendoza haben die Rollen der männlichen Zuckerstangen sehr gut getanzt und wirkten nicht, als wären ihnen ihre Outfits unangenehm, dafür waren sie zu professionell. Nur: Warum mussten sie es in solchen Kostümen sein? Gab es keine männerfreundlicheren Ideen? Vielleicht könnte man bei den Kostümmachern von Der Lebkuchenmann nachfragen? Herr Salz beispielsweise, obgleich kein Tänzer, war sehr kunstvoll in Szene gesetzt und musste kein schräges Outfit tragen. 

Trotz all dieser Höhen und Tiefen des Abends gab es da doch noch etwas, jemanden, um genauer zu sein. Einen ganz besonderen Tänzer. Den Tänzer. Der sich mit der ersten Bewegung seiner Fußspitze klassenweise vom Rest seiner Kollegen abhob. Zufall, fragt man sich beim ersten Mal. Nach mehreren Zufällen solcher Art ist man sich sicher, dass es keine sind. Eine Gestalt, die in ihrer Rolle so tief drin war, dass man sich fragte, was ist ihr eigenes Wesen und was das ihrer Figur Drosselmeier? Der Gang selbstsicher, geheimnisvoll, aalglatt profiliert, Magier und Gaukler zugleich. Und die Fußtechnik erst… Es war ein Genuss, zuzusehen, wie Nobel Lakaev flexibel und scheinbar mühelos übers Parkett gleitet, in einer Perfektion, die von keinem der anderen Tänzer auch nur ansatzweise erreicht wurde. Wie der Körper Pirouette um Pirouette und Sprung um Sprung geschmeidig das hergibt, was ihm vermutlich in jahrelangem Training beigebracht wurde und was er dank eines herausragenden Talentes überhaupt erst erlernen konnte. Der Blick des Zuschauers sucht unaufhörlich die Bühne nach diesem Tänzer ab, um sich von der Genialität seiner Bewegungen hypnotisieren zu lassen. Nobel Lakaev, der Claras Onkel Drosselmeier verkörperte, ist der Hauptgrund, warum man die Saarbrücker Nussknacker-Produktion trotz all ihrer Unstimmigkeiten sehen sollte. Und zwar unbedingt.

Vielleicht könnte sich das Saarländische Staatstheater auch eine Möglichkeit überlegen, wie man diesen Star und alle seine Kolleginnen und Kollegen den Zuschauern im Vorfeld der Vorstellung ein bisschen besser präsentieren könnte? Wäre ein beleuchteter Schaukasten im Gebäude nicht eine Investition wert? Vielleicht sogar ein digitaler, in dem man das komplette Ensemble mit Namen und Fotos vorstellt? Womöglich sogar die kleinen Mäuse, die noch viel zu üben haben, aber ihre Familien und Freunde sicherlich sehr stolz gemacht haben? Denn ein Blatt Papier, das in einer Foyerecke auf einen Holztisch geklebt wurde, ist doch etwas arg „old school“.   


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