Tango

TANGO, DER DEIN HERZ VERBRENNT


Eine Rezension des Romans von Vázquez-Rial


PUKI

 Oktober 2018



Der Beginn dieses Romans ist leider wie eine Festung, die man als Leser einnehmen muss – lange, schwer nachvollziehbare Passagen mit vielen historisch-politischen Beschreibungen, wenige Dialoge und kaum Spannung. Im Nachhinein überlegt man, ob auf diese Weise nicht der Inhalt des Romans widergespiegelt wird: Es ist der Beginn eines neuen Lebens, in einem neuen Land, das eines Auswanderers mit einem kleinen Kind – eben mühsam.

Sobald man den schwierigen Einstieg bewältigt, wird man für seine Mühen belohnt - auch hier gibt es eine Spiegelung im Plot, da sich das Leben der Hauptfiguren positiv entwickelt. Es kommt Bewegung und Leben in die triste Erzählung, in den tristen Alltag. Und beides entwickelt sich scheinbar von alleine, den eigenen Regeln folgend, wächst und breitet sich aus. Die Anzahl der zwischenmenschlichen Begegnungen nimmt zu, die Themenfelder werden immer mehr – der Plot wächst, wie das Leben es tut. Es geht um Politik in Argentinien der Jahrhundertwende, um die Macher der Gesellschaft, um Geschäftsleute, um Frauenhandel, um Mörder, Prosituierte, Bankräuber. Es geht um Musik und Liebe, um Freundschaft und Familie. Es geht um Geister, Teufelsvisionen und Austreibungen böser Dämonen. Um Krankheit und Medizin. Um Slums, um das Leben von Einwanderern, um technischen Fortschritt und geschäftliche Netzwerke.

Der Autor zoomt ein in eine ganze Gesellschaft, geht mit der Lupe über alle Schichten, über die Ärmsten und über die Einflussreichsten, geht dann langsam wieder zurück, nach einem halben Jahrhundert, und zoomt wieder aus.

Es ist fantastisch, wie sich die Themen ineinander verflechten und ein absolut überzeugendes Bild einer Gesellschaft zeichnen, die zeitlich und geographisch so weit von uns entfernt ist. Vázquez-Rial ermöglicht uns eine Zeitreise in ein pulsierendes Argentinien, korrupt und großzügig zugleich, so gekonnt und akribisch zusammengestellt, recherchiert und bis ins Detail durchdacht, dass man es schlicht als ein Geschenk betrachten muss.

Dabei ist der Roman sprachlich nichts Besonderes. In der deutschen Fassung ist die Verwendung einiger typischer Begriffe aus dem damaligen Leben in Argentinien, wie pistolero oder conventillo , interessant. Interessant sind auch einige Vergleiche und Metaphern, die Vázquez-Rial verwendet, z.B. wenn er davon spricht, wie sich die Düfte des Hauses und der Menschen überlagerten und die einzelnen Aromen für die einzelnen Charaktere stehen, für die Nähe ihrer Beziehung.

Auch erzähltechnisch ist das Buch nichts Außerordentliches. Es wird die Geschichte eines Mannes, Ramon, von dessen Kindesjahren an bis ins späte Erwachsenenalter erzählt, mehr oder weniger chronologisch, mit dazwischen geschalteten Kapiteln, die die Unterhaltung des Erzählers mit einer anderen Person darstellen und über die einzelnen Ereignisse teils autobiographisch reflektieren. Diese im Dialog gehaltenen Rückblenden sind eher störend, weil man ihnen schwer folgen kann - sie stellen Bezüge zu Kontexten her, die zum gegebenen Lesezeitpunkt nicht klar sind.

Auf Charakterebene hat Vázquez-Rial sehr überzeugende Arbeit geleistet. Die Anzahl der einzelnen Charaktere, ihre Entwicklung, ihre Verflechtungen – es ist ein eigener Mikrokosmos, den zu konstruieren und zu durchdenken als Meisterleistung bezeichnet werden kann. Die am meisten gelungene Konstellation ist aus meiner Sicht die Triade Roque, Ramon und German als Vater, Sohn und Freund der Familie. Die Schicksale und Charaktere dieser Männer führen dazu, dass zwischen ihnen eine sehr enge Freundschaft entsteht, in der Struktur einer Familie, die nur aus Männern besteht. Roque und German ziehen den kleinen Ramon gemeinsam auf, bringen ihm Lesen und Schreiben bei, involvieren ihn schrittweise in alle ihre Anliegen. Sie ergänzen einander und unterstützen sich, verstehen sich ohne Worte, funktionieren wie ein perfektes Uhrwerk.

Mit dem späteren Tod der beiden Männer, als Ramon schon längst erwachsen ist, geht auch in dem Plot etwas verloren – es geht zwar weiter, es tauchen immer wieder neue Charaktere auf, die mit Ramons Leben verwickelt sind, aber der für Ramon prägende Lebensabschnitt und der für den Leser interessanteste geht zu Ende. Auch hierin zeigt sich, wie außerordentlich der Autor sein Handwerk beherrscht: Er lässt den Leser das erleben, fühlen, was sein Protagonist erlebt und fühlt, ohne dies explizit anzusprechen, einfach durch die Leere, die entsteht, sobald die schönsten Mitfiguren weg sind. Für den Leser, der das Aufwachsen des Jungen miterlebt, geht nämlich auch ein Abschnitt zu Ende, als dessen engste Bezugspersonen sterben. Man fühlt sich so, wie sich Ramon in dem Moment fühlen muss.

Von den zahlreichen Themen des Buches, ist auch sehr interessant, wie Geschäfte zu der Zeit betrieben wurden. Roques Vater schafft es zu einem sehr angesehen Mann, fängt mit dubiosen Geschäften an, baut sie aber immer weiter aus, er ist eine Art Businessgenie würde man heute sagen. Und trotzdem bleiben die Geschäftsthemen immer im Hintergrund, es geht nie in erster Linie um das Geschäft an sich, sondern um die Menschen, um ihre Geschichten, um ihre Beziehungen, ihre Ziele und Möglichkeiten. Das ist wunderbar zu lesen, weil es in einem so deutlichen Kontrast zur heutigen Hektik des Erfolgs steht, in der Familie erwartungsgemäß immer an die zweite Stelle treten soll. Das Buch zeichnet ein gänzlich anderes Bild dazu und bestätigt heutige Zweifler.

Auch die Einstellung zur Menschenwürde, im Zusammenhang mit den Menschenströmen aus Europa, ist sehr interessant dargestellt. Man erfährt, wie einfach es war, jemanden umzubringen oder umbringen zu lassen, ohne dafür belangt zu werden, oder wie mit Frauen Handel betrieben wurde. Die durchaus aktuellen Stichworte Sexsklaven, Menschenhändler, Auftragskiller erhalten Gesichtszüge von vor 150 Jahren und von einem anderen Kontinent. Man vergegenwärtigt sich, wie sich das Bewusstsein in diesen Bereichen verändert hat und dass die Grundproblematik geblieben ist, weltweit.

Und der Tango – er ist die Hintergrundmusik, unwiderruflich verbunden mit German alias Hermann Frisch, der mit seinem Bandoneon aus Deutschland nach Argentinien gekommen war und der ihn als einer der sehr wenigen bis zur Perfektion beherrscht, sowohl technisch als auch emotional. So wie Roque, ein Spanier, das Geschäftemachen perfekt umsetzt. Und auch hier erweist sich Vázquez-Rial als ein Meister der Indirektheit, zeigt er doch, wie stark der Einfluss des alten Kontinents auf die Entstehung südamerikanischer Staaten war.

Sprachlich bzw. terminologisch gibt es leider ein großes Problem in dem Buch. Da der Roman an sich durchgehend sehr gut recherchiert wurde, ist davon auszugehen, dass der Fehler in der Übersetzung entstanden ist, jedoch ist es sehr problematisch, die Übersetzung anzuzweifeln ohne den Originaltext zu verstehen. Deshalb möchte ich hier lediglich das sprachliche Problem schildern, das zu einer Verfälschung der historisch-politischen Fakten führt.

Im Kontext der polnischen Judenviertel im 19. Jahrhundert, also der von Juden bewohnten Siedlungen auf den Gebieten des geteilten und politisch de facto nicht existierenden Polens, wird in dem Roman vom Warschauer Ghetto gesprochen. Das Warschauer Ghetto als feststehender Begriff wird aber für das im Jahr 1940 durch die Nazis in Warschau errichtete Ghetto verwendet, in das die Juden aus Warschau zwangsweise hinziehen mussten und dort massenweise brutal ermordet wurden. Es ist also irreführend, diese Bezeichnung für andere Orte zu verwenden.

Es ist auch irreführend, etwas allgemeiner von polnischen Judenghettos zu sprechen, da Polen als Staat im gesamten 19. Jahrhundert bis zum Ende des 1. Weltkrieges politisch nicht existiert hat – es war unter den Mächten Preußen, Zaren-Russland und Österreichisches Kaiserreich aufgeteilt. Auch die Bezeichnung Ghetto ist nicht ideal, da sie eine geographische Abgeschlossenheit impliziert. In der Tat war es aber so, dass es aufgrund einer pro-jüdischen Politik in Polen ab dem ausgehenden Mittelalter Juden erlaubt war, sich niederzulassen, ihren Glauben auszuüben und am Wirtschaftsleben teilzunehmen. Es entstanden jüdische „Städtel“ sowie mehr oder weniger zusammenhängende Siedlungen. Erst mit der Zeit keimte Antisemitismus in den polnischen Gebieten auf und die jüdischen Mitbürger wurden ausgegrenzt. Allerdings wäre es wohl zu weit, in dem Zusammenhang von Ghettos zu sprechen. Die historische Bezeichnung in diesem Kontext, v.a. für östliche Gegenden, lautet Arayon. Wenn die Übersetzung eine andere Benennung favorisiert, muss bei der Lösung unbedingt darauf geachtet werden, keine Assoziation mit dem Warschauer Ghetto des NS-Regimes entstehen zu lassen.

Abgesehen von der terminologischen Verfälschung im Zusammenhang mit den jüdischen Siedlungen im geteilten Polen und von dem sehr zähen Anfang ist der Roman ein Geschenk, das Vázquez-Rial der Nachwelt zurückgelassen hat: Ein lebhaftes, umfangreiches, authentisches Bild von Buenos Aires des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, das so informativ wie eine Fernsehdoku, so spannend wie ein Gaunerkrimi und so emotional wie eine historische Liebesgeschichte ist.



Rezensiert wurde:
Vázquez-Rial, Horacio (2007): Tango, der dein Herz verbrennt. Übers. Petra Zickmann und Manel Pérez Espejo. München: Piper. [2005] (Orginaltitel: Frontera Sur. Madrid: Santillana, 1994)

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